„Unterm Strich waren wir alleingelassen“

Judith Keil (13) ist von Geburt an blind. Von der ersten bis zur sechsten Klasse besuchte Judith die Regelschule mit Unterstützung durch eine Schulbegleiterin und den Mobilen Sonderpädagogischen Dienst (MSD). Gemeinsam sprechen wir über die inklusive Beschulung an einer Regelschule, die Unterstützung durch den MSD und die Gründe, warum Judith ab der siebten Klasse von der Regelschule auf eine Förderschule gewechselt ist.
BBSB: Wie sah ein typischer Schultag in der inklusiven Beschulung in einer Regelschule aus?
Judith: Wir waren 17-18 Schüler*innen in einer Klasse. Bis zur sechsten Klasse war ich die einzige Schülerin mit einer Behinderung. In der sechsten Klasse hatte ich einen Mitschüler, der war Autist.
Ich konnte ganz normal am Unterricht teilnehmen. Hefteinträge hat mir die Schulbegleiterin diktiert. Ich habe sie auf der Punktschriftschreibmaschine aufgeschrieben. In der dritten oder vierten Klasse habe ich dann angefangen, die Hefteinträge in Braille am Laptop aufzuschreiben.
Die Schulbegleiterin hat mir nicht bei der Lösung von Matheaufgaben oder so geholfen. Rechnen muss ich schon selber. Leider (lacht). Ich habe in allen Fächern Unterstützung von der Schulbegleiterin bekommen. Vor allem in Sport und Kunst.
Anneliese Keil ergänzt: Ohne die Schulbegleiterin wäre die Gestaltung eines Schultages nicht möglich gewesen. Sie hat ganz, ganz viel abgefangen. Tafelbild diktieren, mal schnell was raussuchen. Es hat halt oft pressiert, und da hat niemand lange Zeit zu warten, bis das blinde Kind soweit ist. Es kann zwar alles, aber es dauert länger.
Die Schulbegleitung hat Judith aber nicht betüdelt oder so. Sie hat es ganz toll gemacht. Zum Beispiel im Nähunterricht hat sie es immer so toll für Judith hergerichtet, dass Judith wirklich nähen konnte.
Judith ergänzt: Die Lehrerin war ganz begeistert von mir, weil ich die Einzige war, die die Teile von der Nähmaschine wusste (lacht).
Anneliese Keil: Ja, die meiste Unterstützung bekam Judith durch die Schulbegleiterin und nicht durch den MSD. Die Schulbegleiterin hat im Prinzip MSD-Aufgaben übernommen, weil so oft kein MSD da war.
BBSB: Was war denn das Problem mit dem MSD?
Anneliese Keil: Der MSD hätte viel, viel mehr Aufgaben zu erledigen gehabt. Aber wenn die nicht vor Ort sind – ja irgendwie muss es laufen. Ich habe schon manchmal den Verdacht gehabt, dass es von der Politik her Methode hat. Man versucht es mit möglichst wenig Aufwand: Die Lehrerin wird es schon machen, die Eltern werden es schon machen und die Schulbegleiterin wird es schon machen. Niemand wird das Kind hängen lassen und somit läuft es. Und für die Politik läuft es. Aber es läuft nur, weil sich alle anderen sechs Beine ausreißen.
So kann man keine Inklusion machen. Inklusion heißt, glaub ich, für unsere Regierung, fürs Kultusministerium: Das Kind darf die Schule betreten und darf im gleichen Klassenzimmer sitzen und die Schulbegleiterin darf auch daneben sein und das Kind unterstützen und die Lehrerin wird das dann schon irgendwie händeln.
Ich denke nicht, dass es in erster Linie am Geld liegt, wenn die Bedingungen für die Inklusion nicht verbessert werden, sondern an den eingefahrenen Denkmustern der Entscheidungsträger. Es gibt leider noch viel zu viele Barrieren in den Köpfen der Menschen.
BBSB: Wie oft waren die MSD-Lehrkräfte in der Schule?
Mutter: Ich möchte jetzt aber nicht sagen, dass beim MSD an sich der Fehler liegt. Die Lehrkräfte, die wir vom MSD gehabt haben, die waren wirklich immer sehr gut. In den ersten zwei Jahren hatten wir die Frau L. Auch vor der Schule waren wir schon mit ihr im Kontakt. Da haben wir schon Gespräche mit der Rektorin geführt und mit der Lehrerin. Die Lehrerin vom MSD ist in der ersten Klasse jede Woche gekommen. In der zweiten Klasse im ersten Halbjahr war das dann schon weniger. Ich glaub, da war’s alle zwei Wochen oder so.
Judith ergänzt: Sehr, sehr unregelmäßig.
Anneliese Keil: Dann im zweiten Halbjahr ist es immer öfter ausgefallen, weil sie dann andere Aufgaben bekommen hat und immer öfter keine Zeit hatte. Und das war dann wirklich schwierig, weil die Lehrerin noch nie ein blindes Kind unterrichtet hat. Die braucht ganz viel Unterstützung bei der Didaktik und Pädagogik für blinde Kinder, einfach die Umsetzung des Unterrichtsstoffs für ein blindes Kind. Die Musiklehrerin in der dritten Klasse war einfach selber kreativ. Die hat Musiknoten aus Moosgummi ausgeschnitten und aufgeklebt. Sie hat dabei aber keinerlei Unterstützung vom MSD gehabt. Gerade in der dritten Klasse haben wir bis Weihnachten eine MSD-Lehrerin gehabt, die alle zwei Wochen gekommen ist. Und dann wurde sie schwanger. Ab Weihnachten hatten wir bis vier Wochen vor den Sommerferien keine MSD-Lehrerin. Da waren die Lehrkräfte dann wirklich auf sich selber gestellt. Und eventuell ist dann jemand engagiert, kreativ und setzt das gut um, aber das erfordert ein unglaubliches Engagement, was man, finde ich, von einer Lehrkraft nicht dauerhaft verlangen kann. Die kriegt nicht mehr Geld als eine andere Lehrkraft.
Für dieses Schuljahr wurden aus der Förderschule sogar noch zwei Lehrerinnen abgezogen, weil es angeblich zu viele sind – und das obwohl es hinten und vorne brennt
BBSB: Was muss denn in Bezug auf den MSD anders werden?
Anneliese Keil: Die Anzahl der MSD-Stunden muss an den Bedarf der Schüler*innen angepasst werden. Deshalb ist dringend eine Gesetzesänderung nötig. Dieses Gesetz muss natürlich auch umgesetzt werden und dazu braucht man Fachkräfte, die derzeit aber leider fehlen. Deswegen muss man kreativ werden und Möglichkeiten finden, wie man junge Menschen für diesen interessanten Beruf begeistern kann.
BBSB: Es klingt alles nach der heißen Nadel gestrickt. Es funktioniert, solange niemand krank ist, solange niemand Urlaub hat, solange niemand schwanger ist oder sonstiges im Leben passiert.
Anneliese Keil: Ja, wie ich es vorher schon gesagt habe: Es funktioniert nicht deshalb, weil die Rahmenbedingungen von der Politik so gut wären, sondern es funktioniert wegen des unglaublichen Engagements der Lehrkräfte vor Ort.
Judith ergänzt: Meistens engagiert.
Anneliese Keil: Ja, das stimmt. In der dritten und vierten Klasse haben wir da ein bisschen Pech gehabt, aber ab der fünften und sechsten Klasse war es wieder besser. Aber es gab dann auch Lehrkräfte, die gesagt haben: Das ist zu viel.
BBSB: Wie hat die Absprache zwischen Lehrkräften, MSD-Lehrkraft und der Schulbegleiterin stattgefunden? Sind sie gemeinsam vor den Stunden den Lehrplan durchgegangen und haben dann überlegt, wie man den Stoff vermitteln kann?
Anneliese Keil: In der ersten und zweiten Klasse war es so, dass die MSD-Lehrkraft zum Teil im Unterricht mit dabei war, Judith aber auch rausgenommen hat, um mit ihr spezielle Sachen zu besprechen und zu zeigen, zum Beispiel blindenspezifische Tätigkeiten erarbeiten oder Ordnungssysteme erstellen. Die MSD-Lehrkraft hat Judith und der Lehrerin beigebracht, wie sie Matheaufgaben löst. Die Zahlen werden beim Multiplizieren nämlich nicht untereinander, sondern nebeneinander geschrieben und dann zusammengerechnet.
Und weil die Lehrkraft und die Schulbegleiterin so überdurchschnittlich engagiert waren, haben die sich nach der Schule zu dritt zusammengesetzt, und haben da auch noch ein, zwei Stunden geredet, alle Fragen beantwortet zu Didaktik und Pädagogik: Wie kann ich etwas einem blinden Kind beibringen? Das war alles „Freizeitvergnügen“ für die Lehrerin und die Schulbegleiterin. Die haben keinen Cent dafür bekommen, keine Freistunde. Nix. Aber denen war es wichtig, dass es für Judith läuft. „Für Judith machen wir das“, haben sie gesagt.
Wenn die MSD-Lehrerinnen vor Ort waren, haben sie gute Arbeit geleistet. Von der vierten bis zur sechsten Klasse war es dann beispielsweise so, dass die MSD-Lehrerin morgens in der Schule dabei war und nach der Mittagspause dann teilweise zu uns nach Hause gekommen ist. Und dann haben sie und Judith nochmal zwei Stunden gearbeitet. Da haben wirklich die Köpfe geraucht. (lacht) Das war eine intensive Arbeit. Am Laptop zum Beispiel. Wenn sie da war, dann war es wirklich gut.
Sowohl die Eltern als auch die Lehrkräfte hatten außerdem die Möglichkeit, den MSD per E-Mail zu kontaktieren, wenn zwischendurch mal Fragen auftraten, die schnell abzuhandeln waren. Da war immer viel Offenheit von Seiten der MSD-Kraft da.
BBSB: Und dann ist es schade, wenn das nicht durch die passenden Rahmenbedingungen honoriert wird. Es wäre ja dann nicht nur für Judith und andere Kinder mit Behinderungen leichter, sondern auch für die MSD-Lehrkräfte.
Anneliese Keil: Ja. Das stimmt. Und auch die Lehrkräfte der Regelschule werden zum Teil so „verheizt“, dass man sich nicht wundern muss, dass sie nach ein bis zwei Mal inklusiver Beschulung sagen: Ich möchte nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Da kann ich im Prinzip keiner Lehrerin böse sein. Ich kann nicht einfach Inklusion fordern und dann die Leute hängen lassen.
Ich habe gestern noch mit der Schulbegleiterin gesprochen – in Vorbereitung auf das Gespräch mit Ihnen. Und sie hat gesagt: „Unterm Strich waren wir allein gelassen.“ Und ich denke, wenn man die Lehrkräfte fragen würde, die würden vermutlich das Gleiche sagen. Ich denke, wenn man in der dritten Klasse ein dreiviertel Jahr ohne MSD-Lehrkraft ist und in der sechsten ab Ostern, dann ist das schon heftig.
BBSB: Da entstehen dann auch Ängste, oder? Wie läuft die Schullaufbahn meines Kindes weiter? Wie schaffen wir es, die Defizite auszugleichen?
Anneliese Keil: Ja. Ich denke, dass das in erster Linie für die Lehrerin schwierig ist, weil sie sich Gedanken machen muss, wie sie den Stoff an ein blindes Kind vermittelt. Und dann merkt sie, dass sie an ihre Grenzen stößt. Woher soll sie es auch wissen? Das ist auch eine psychische Belastung. Sie möchte das ja auch gut machen.
Und für die Eltern ist das natürlich eine psychische Belastung, weil sie merken, es läuft nicht rund. Und ich denke, das Kind bekommt es auch mit. Auch wenn man es nicht so offen ausspricht, aber wenn man ein feinfühliges Kind wie Judith hat, dann kriegt es mit, dass es nicht rund läuft. Und die Kinder reagieren entsprechend, zum Teil auch mit Verweigerung oder sonst was. Also Verweigerung in der Schule. Nicht mit dem MSD. Irgendwie muss sich das Kind auch wehren, muss ich schon fast sagen. Irgendwo muss sich das Kind auch noch zeigen.
BBSB: Judith, du bist nach der sechsten Klasse von der Regelschule an das Sehbehinderten- und Blindenzentrum Südbayern gewechselt. Kannst du bitte kurz erzählen, warum du von der Regelschule an eine Förderschule gewechselt hast?
Judith: Meine Lehrerin hat gesagt, dass sie mich im Kochen nicht unterrichten will. Sie hatte mich schon in Werken und textiles Gestalten. Da lief es dank der Schulbegleitung recht gut.
Anneliese Keil ergänzt: Das war die Lehrerin, die Judith im Nähen unterrichtet hat. Da gab es anfangs auch Bedenken seitens der Lehrerin: „Was ist, wenn sich Judith in den Finger sticht?“ Da habe ich gesagt: „Ja, dann blutet Judith wie alle anderen auch.“
Die Lehrerin konnte sich nicht vorstellen, dass ein blinder Mensch kochen lernen kann. Es war ihr zu gefährlich und die Verantwortung wollte sie nicht übernehmen. Judith wollte aber unbedingt den sozialen Zweig der Schule weiterbesuchen. Der technische Zweig kam für sie aufgrund der Blindheit nicht infrage. Wirtschaftszweig wollte sie nicht.
Judith hat gesagt: „Okay, ich möchte aber kochen lernen und ich möchte den sozialen Zweig. Dann gehe ich nach Unterschleißheim“ (SBZ, Anm. d. BBSB). Ich persönlich habe meinen Frieden damit gemacht, dass Judith in Unterschleißheim ist. Judith fühlt sich da jetzt auch wohl. Ich hadere nicht damit, dass Judith wegen des Kochens nach Unterschleißheim hat gehen müssen. Aber es darf nicht sein, dass die Lehrkräfte an der Regelschule nicht gut genug unterstützt werden, sodass sie sagen können, mit Unterstützung durch den MSD traue ich mir zu, ein blindes Kind zu unterrichten.
BBSB: Und eine sonderpädagogische Lehrkraft hätte diese Unterstützung leisten können?
Anneliese Keil: Eine MSD-Lehrkraft, die oft genug da ist und die Lehrkraft entsprechend schulen könnte, könnte die Lehrkraft ausreichend unterstützen. Ich wünsche mir, dass da mehr Fortbildungen für die Lehrkräfte an Regelschulen stattfinden. Wenn eine Fachlehrkraft dann weiß, wie sie mit einem blinden Kind kocht, dann hat sie auch weniger Scheu davor, dann traut sie sich mehr. Aber wenn sie diese Informationen und Unterstützung nicht hat, dann traut sie sich das nicht zu. Es darf nicht sein, dass ein Kind wechseln muss, weil eine Lehrkraft so wenig Unterstützung hat. Es muss einfach mehr MSD vor Ort sein.
Wenn man von Inklusion spricht, geht es nicht, dass ein Kind gezwungen ist, die Inklusion zu verlassen, wenn es den schulischen Zweig seiner Wahl machen möchte.
BBSB: Vielen Dank für die vielen Einblicke in die bisherige Schullaufbahn und die Arbeit mit dem MSD. Zum Abschluss noch eine Frage: Was wünschst du dir, Judith/Was wünschen Sie sich, Frau Keil, für die Zukunft?
Judith: Ich wünsche mir mehr MSD für inklusiv beschulte Kinder. Nach der Schule möchte ich mal Erzieherin werden. Ich möchte gerne in Gruppen mit weniger Kindern arbeiten. In der Krippe. In Richtung Sonderpädagogik (ergänzt Anneliese Keil).
Anneliese Keil: Ich wünsche mir, dass sich die Rahmenbedingungen für Inklusion zum Positiven ändern; dass man kreativ wird in Richtung Personalmangel MSD und Sonderpädagogik im Bereich Sehen, damit die Lehrkräfte an den Regelschulen besser unterstützt werden können und die Lehrkräfte nicht dermaßen an ihre Grenzen kommen. All das wirkt sich ja auch auf das Kind aus. Für das Kind wünsche ich mir eine schöne inklusive Beschulung.
Inklusion ist für mich, wenn die Rahmenbedingungen so angepasst sind, man sich NICHT entscheiden muss zwischen guter Förderung für das Kind, dafür Förderschule oder Schule im sozialen Umfeld, dafür aber schlechtere Förderung. Die Förderung muss in der Inklusion genauso gut sein wie in der Förderschule.
BBSB: Vielen Dank für das Gespräch.
Kontakt
Franziska Weigand
Mitglied im Landesvorstand e.V.
franziska.weigand@bbsb.org